23.08.2022 16:32 | SWR - Das Erste | Medien / Kultur
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"Report Mainz"-Umfrage: Fluggastklagen überlasten die Gerichte
Mainz (ots) -
Sendung am heutigen Dienstag, 23. August 2022, 21:45 Uhr im Ersten / Moderation: Fritz Frey
Einzelne Amtsgerichte bearbeiten bis zu 90 Prozent Fluggastklagen / Hessischer Justizminister Roman Poseck: "Das Personal, das Massenverfahren bearbeitet, steht für wichtige Strafverfahren nicht zur Verfügung."
Fluggastfälle fluten derzeit die Amtsgerichte. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des ARD-Politikmagazins "Report Mainz" unter zwölf Amtsgerichten, die für Flughäfen zuständig sind. Besonders belastet ist danach das Amtsgericht Erding, zuständig für den Flughafen München: Hier sind 90 Prozent der Verfahren reine Fluggastfälle. Gefolgt vom Amtsgericht Königs Wusterhausen, zuständig für den Hauptstadtflughafen BER: 83 Prozent der Zivilfälle sind hier Fluggastfälle. Amtsgerichte fühlen sich zunehmend durch solche Massenverfahren überlastet. Bundesweit verhandeln Amtsgerichte im Schnitt rund 100.000 Fluggastfälle jährlich, das sind 10 Prozent aller Zivilfälle.
Zahl der Fluggastverfahren zeigt nach Corona wieder massiv an
Nach einem Rückgang der Fallzahlen im vergangenen Corona-Sommer steigt die Zahl der Fluggastverfahren in diesem Sommer wieder massiv an, vergleichbar mit dem Vor-Corona-Sommer 2019. Die meisten Fälle meldet aktuell das Amtsgericht Köln mit rund 7.300 (Stand 31.7.2022). Dabei ist der Höhepunkt der Klagezahlen noch nicht erreicht. Der Sprecher des Amtsgerichts Frankfurt Michael Gottmann rechnet damit, dass "eine Welle zusätzlicher Fluggastklagen ab Spätherbst auf uns zurollen wird." Am Amtsgericht Frankfurt machen Fluggastfälle etwa die Hälfte der Zivilfälle aus. Die Fluggastrechteverordnung billigt Passagieren bei mehr als dreistündiger Flugverspätung oder Annullierung ihres Fluges eine Entschädigung von bis zu 600 Euro zu, abhängig von der Entfernung des geplanten Fluges. Reiseexperten und Fluggastportale erklären gegenüber "Report Mainz", dass viele Airlines die Entschädigung grundsätzlich nicht zahlten, um so Kosten zu sparen. Bei dem Fluggastportal Flightright melden sich aktuell täglich rund tausend geschädigte Passagiere. "Rund 50 Prozent unserer Fälle landen vor Gericht", erklärt Oskar de Felice, Sprecher von Flightright. Zudem müsse für jeden einzelnen Passagier in einem Flugzeug individuell geklagt werden, obwohl der Sachverhalt immer der gleiche sei. "Das ist total absurd: Wir haben häufig 20, 30 Passagiere auf einem Flug und müssen dann 20, 30 Urteile erstreiten," so De Felice.
Massenverfahren haben erhebliche Folgen für die Justiz
Der Hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) erklärt gegenüber "Report Mainz", diese Massenverfahren hätten erhebliche Folgen für die Justiz: "Wenn die Gerichte jetzt in ganz hohem Maße diese Massenverfahren bearbeiten müssen, werden personelle Kapazitäten gebunden, die an anderer Stelle nicht vorhanden sind." Man könne das Personal nur einmal einsetzen. "Das Personal, das Massenverfahren bearbeitet, steht für Haftsachen, für wichtige Strafverfahren nicht zur Verfügung." Richter, die in Massenverfahren etwa zu Fluggastrechen, Dieselentschädigungen oder Entschädigungen für Bankkunden gebunden seien, fehlten am Ende also für Strafverfahren. Bei Strafverfahren wird die Überlastung der Justiz überdeutlich: Immer wieder müssen Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil Strafprozesse nicht rechtzeitig eröffnet werden können. Eine Umfrage von "Report Mainz" unter den Justizministerien der Länder ergab, dass in den vergangenen acht Jahren in jedem Bundesland Tatverdächtige aus der Haft entlassen wurden. Insgesamt mehr als 375 mutmaßliche Straftäter. Begründet wird das von den Justizbehörden mit einer Überlastung der Justiz.
Gerichte schlagen Alarm
Immer mehr Gerichte schlagen Alarm. Thorsten Eckert, Vorsitzender des Bezirksrichterrats bei dem Oberlandesgericht München erreichte im Herbst letzten Jahres ein Brandbrief von neun Richtern des Amtsgerichtes Augsburg, der "Report Mainz" vorliegt. Sie schreiben, dass der Umgang mit der Masse sie zu "Urteilsrobotern" mache. Sie müssten um "der Masse Herr zu werden, einen Großteil dessen über Bord werfen, was wir gelernt und verinnerlicht haben". Denn würden sie daran festhalten, "würde die Ziviljustiz in kürzester Zeit kollabieren". OLG-Richter Thorsten Eckert bestätigt uns gegenüber: "Tatsächlich ist das hundertprozentig richtig: Mit Massenverfahren wird der Rechtsstaat kaputt gemacht." Alle Bundesländer haben in den letzten vier Jahren massiv Personal aufgestockt: 2.700 Staatsanwälte und Richter insgesamt. Doch das reiche angesichts der Massenklagen noch immer nicht, um die Justiz wirklich zu entlasten, so der hessische Justizminister: "Es geht nicht alles übers Personal. Die personelle Ausstattung wird immer an Grenzen stoßen. Ich halte es auch für wichtig, dass wir die Gesetze ändern, dass wir Verfahrensordnungen so anpassen, damit sich die Justiz auf das konzentrieren kann, was wesentlich ist." Die Justizministerkonferenz hatte vom Bundesjustizministerium bereits mehrfach gesetzgeberische Maßnahmen für Massenverfahren gefordert, insbesondere eine Änderung der Zivilprozessordnung sei unverzichtbar. Doch das Bundesjustizministerium stellt auf Anfrage von "Report Mainz" eine solche Änderung nicht in Aussicht. Das kritisiert der hessische Justizminister Roman Poseck: "Ich würde mir schon wünschen, dass sich der Bundesjustizminister zügig und intensiv dieser Thematik annimmt. Bislang kann ich das jedenfalls nicht feststellen."
Weitere Informationen auf der Internet-Seite http://x.swr.de/s/1412
Zitate gegen Quellenangabe "Report Mainz" frei.
Pressekontakt: Redaktion "Report Mainz", Tel. 06131 929 33351
Infos auch auf: http://swr.li/report-mainz-fluggastklagen
Newsletter "SWR vernetzt": http://x.swr.de/s/vernetztnewsletter
Original-Content von: SWR - Das Erste, übermittelt durch news aktuell
Sendung am heutigen Dienstag, 23. August 2022, 21:45 Uhr im Ersten / Moderation: Fritz Frey
Einzelne Amtsgerichte bearbeiten bis zu 90 Prozent Fluggastklagen / Hessischer Justizminister Roman Poseck: "Das Personal, das Massenverfahren bearbeitet, steht für wichtige Strafverfahren nicht zur Verfügung."
Fluggastfälle fluten derzeit die Amtsgerichte. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des ARD-Politikmagazins "Report Mainz" unter zwölf Amtsgerichten, die für Flughäfen zuständig sind. Besonders belastet ist danach das Amtsgericht Erding, zuständig für den Flughafen München: Hier sind 90 Prozent der Verfahren reine Fluggastfälle. Gefolgt vom Amtsgericht Königs Wusterhausen, zuständig für den Hauptstadtflughafen BER: 83 Prozent der Zivilfälle sind hier Fluggastfälle. Amtsgerichte fühlen sich zunehmend durch solche Massenverfahren überlastet. Bundesweit verhandeln Amtsgerichte im Schnitt rund 100.000 Fluggastfälle jährlich, das sind 10 Prozent aller Zivilfälle.
Zahl der Fluggastverfahren zeigt nach Corona wieder massiv an
Nach einem Rückgang der Fallzahlen im vergangenen Corona-Sommer steigt die Zahl der Fluggastverfahren in diesem Sommer wieder massiv an, vergleichbar mit dem Vor-Corona-Sommer 2019. Die meisten Fälle meldet aktuell das Amtsgericht Köln mit rund 7.300 (Stand 31.7.2022). Dabei ist der Höhepunkt der Klagezahlen noch nicht erreicht. Der Sprecher des Amtsgerichts Frankfurt Michael Gottmann rechnet damit, dass "eine Welle zusätzlicher Fluggastklagen ab Spätherbst auf uns zurollen wird." Am Amtsgericht Frankfurt machen Fluggastfälle etwa die Hälfte der Zivilfälle aus. Die Fluggastrechteverordnung billigt Passagieren bei mehr als dreistündiger Flugverspätung oder Annullierung ihres Fluges eine Entschädigung von bis zu 600 Euro zu, abhängig von der Entfernung des geplanten Fluges. Reiseexperten und Fluggastportale erklären gegenüber "Report Mainz", dass viele Airlines die Entschädigung grundsätzlich nicht zahlten, um so Kosten zu sparen. Bei dem Fluggastportal Flightright melden sich aktuell täglich rund tausend geschädigte Passagiere. "Rund 50 Prozent unserer Fälle landen vor Gericht", erklärt Oskar de Felice, Sprecher von Flightright. Zudem müsse für jeden einzelnen Passagier in einem Flugzeug individuell geklagt werden, obwohl der Sachverhalt immer der gleiche sei. "Das ist total absurd: Wir haben häufig 20, 30 Passagiere auf einem Flug und müssen dann 20, 30 Urteile erstreiten," so De Felice.
Massenverfahren haben erhebliche Folgen für die Justiz
Der Hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) erklärt gegenüber "Report Mainz", diese Massenverfahren hätten erhebliche Folgen für die Justiz: "Wenn die Gerichte jetzt in ganz hohem Maße diese Massenverfahren bearbeiten müssen, werden personelle Kapazitäten gebunden, die an anderer Stelle nicht vorhanden sind." Man könne das Personal nur einmal einsetzen. "Das Personal, das Massenverfahren bearbeitet, steht für Haftsachen, für wichtige Strafverfahren nicht zur Verfügung." Richter, die in Massenverfahren etwa zu Fluggastrechen, Dieselentschädigungen oder Entschädigungen für Bankkunden gebunden seien, fehlten am Ende also für Strafverfahren. Bei Strafverfahren wird die Überlastung der Justiz überdeutlich: Immer wieder müssen Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil Strafprozesse nicht rechtzeitig eröffnet werden können. Eine Umfrage von "Report Mainz" unter den Justizministerien der Länder ergab, dass in den vergangenen acht Jahren in jedem Bundesland Tatverdächtige aus der Haft entlassen wurden. Insgesamt mehr als 375 mutmaßliche Straftäter. Begründet wird das von den Justizbehörden mit einer Überlastung der Justiz.
Gerichte schlagen Alarm
Immer mehr Gerichte schlagen Alarm. Thorsten Eckert, Vorsitzender des Bezirksrichterrats bei dem Oberlandesgericht München erreichte im Herbst letzten Jahres ein Brandbrief von neun Richtern des Amtsgerichtes Augsburg, der "Report Mainz" vorliegt. Sie schreiben, dass der Umgang mit der Masse sie zu "Urteilsrobotern" mache. Sie müssten um "der Masse Herr zu werden, einen Großteil dessen über Bord werfen, was wir gelernt und verinnerlicht haben". Denn würden sie daran festhalten, "würde die Ziviljustiz in kürzester Zeit kollabieren". OLG-Richter Thorsten Eckert bestätigt uns gegenüber: "Tatsächlich ist das hundertprozentig richtig: Mit Massenverfahren wird der Rechtsstaat kaputt gemacht." Alle Bundesländer haben in den letzten vier Jahren massiv Personal aufgestockt: 2.700 Staatsanwälte und Richter insgesamt. Doch das reiche angesichts der Massenklagen noch immer nicht, um die Justiz wirklich zu entlasten, so der hessische Justizminister: "Es geht nicht alles übers Personal. Die personelle Ausstattung wird immer an Grenzen stoßen. Ich halte es auch für wichtig, dass wir die Gesetze ändern, dass wir Verfahrensordnungen so anpassen, damit sich die Justiz auf das konzentrieren kann, was wesentlich ist." Die Justizministerkonferenz hatte vom Bundesjustizministerium bereits mehrfach gesetzgeberische Maßnahmen für Massenverfahren gefordert, insbesondere eine Änderung der Zivilprozessordnung sei unverzichtbar. Doch das Bundesjustizministerium stellt auf Anfrage von "Report Mainz" eine solche Änderung nicht in Aussicht. Das kritisiert der hessische Justizminister Roman Poseck: "Ich würde mir schon wünschen, dass sich der Bundesjustizminister zügig und intensiv dieser Thematik annimmt. Bislang kann ich das jedenfalls nicht feststellen."
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Gesellschaft , Politik , Tourismus , Justiz , Umfrage , Innenpolitik , Verkehr , Wirtschaft , Fernsehen , Verbraucher , Reise , Dokumentation , TV-Ausblick ,
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