26.05.2019 22:29 | BERLINER MORGENPOST | Presseschau
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BERLINER MORGENPOST: Ein Drama namens SPD / Leitartikel von Jörg Quoos
Berlin (ots) - An diesem Wahlsonntag wird die Bundespolitik noch
lange zu kauen haben: Der Wähler hat die großen - oder besser,
ehemals großen - Volksparteien wieder brutal abgestraft. Die Union
bleibt zwar stärkste Kraft, ist aber weiter im Abschwung. Die SPD
erlebt ein Drama und landet deutlich hinter den Grünen, die sich
glatt verdoppeln konnten.
Es ist eine historische Demütigung für die Sozialdemokraten.
Endgültig vorbei ist die Zeit, als Gerhard Schröder noch der Chefkoch
in der rot-grünen Koalition war und den kleinen Partner breitbeinig
als "Kellner" verhöhnen konnte.
Die Sozialdemokraten sind mittlerweile in derart desolater
Verfassung, dass sie froh sein können, wenn sie überhaupt noch
irgendwo mitregieren können. Sogar im SPD-treuen Bremen ist ihre
historische Vormachtstellung offensichtlich Geschichte. Jetzt geht
das altbekannte Spiel wieder los: Abrechnung mit dem Parteichef!
Diesmal ist die erste weibliche Vorsitzende Andrea Nahles dran. Sie
hat gekämpft und es trotzdem nicht geschafft hat, die Partei aus der
Todesspirale herauszuführen.
Dass ausgerechnet der Wahlverlierer Martin Schulz jetzt einen
Putsch gegen sie anführt, zeigt, wie dramatisch die Personalsituation
in Deutschlands ältester Volkspartei ist. Und mit jeder neuen Runde
der Selbstzerfleischung rutscht die SPD noch tiefer in den Keller. Es
droht die reale Gefahr, dass die Partei von Willy Brandt wie
Frankreichs Sozialisten den Weg in die Bedeutungslosigkeit angetreten
hat.
Auch die Union ist ein Verlierer dieser Europawahl. Die
Arbeitsteilung von Parteivorsitzender und Kanzlerin hat den Wähler
offenbar nicht überzeugt. Dazu kam ein Spitzenkandidat, der zwar viel
Seriosität, aber wenig Charisma zu bieten hatte. Bis gestern kannte
jeder dritte Wähler Manfred Weber nicht. Das reicht am Ende eben
nicht für einen klaren Sieg und macht Webers Traum vom Präsidentenamt
in Brüssel noch unrealistischer.
Überhaupt war der Europawahlkampf angesichts der großen
Herausforderungen insgesamt erstaunlich blass. Dass die teure
Wahlkampftruppe von CDU/CSU sich auf den letzten Metern von einem
blauhaarigen Youtuber an die Wand spielen ließ, war "f***ing krass",
um es mit Rezo, dem selbst ernannten CDU-"Zerstörer" mal drastisch zu
formulieren. Vielleicht finden die Volksparteien die Kraft,
grundsätzlich mal über einen modernen Wahlkampf nachzudenken. Der
alte Dreikampf aus sinnfreien Plakaten, Wahlkampfauftritten mit
Papierfähnchen und den berühmten Info-Klapptischen in der
Fußgängerzone ist endgültig aus der Zeit gefallen.
Wer dagegen die sozialen Netzwerke beherrscht und auf Emotionen
statt auf bürgerfernen Polit-Sprech setzt, wird gehört. Das mögen
Traditionalisten beklagen, aber es ist trotzdem wahr. Wie es
funktioniert, können Union und SPD von den Grünen lernen. Diese haben
offensichtlich mit ihren Themen den Nerv der Wähler exakt getroffen.
Sie triumphierten in den Großstädten und haben jetzt ein politisches
Luxus-Problem: Sie brauchen einen Kanzlerkandidaten. Zwei Ergebnisse
hat die Wahl, die durchaus Grund zur Freude sind. Zum einen konnte
die AfD in Deutschland mit ihrem populistischen Anti-Europa-Kurs für
keinen Erdrutsch sorgen. Die Rechten blieben deutschlandweit unter
den Prognosen, nur im Osten wurden sie wirklich stark. Und
gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung der Deutschen deutlich
gestiegen.
Das Interesse an Europa ist größer geworden. Die Jungen sind
offenbar wach geworden und wollen sich einmischen. Das sollten alle -
auch die großen Wahlverlierer - durchaus als Chance begreifen.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/887277 - 878
bmcvd@morgenpost.de
Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell
lange zu kauen haben: Der Wähler hat die großen - oder besser,
ehemals großen - Volksparteien wieder brutal abgestraft. Die Union
bleibt zwar stärkste Kraft, ist aber weiter im Abschwung. Die SPD
erlebt ein Drama und landet deutlich hinter den Grünen, die sich
glatt verdoppeln konnten.
Es ist eine historische Demütigung für die Sozialdemokraten.
Endgültig vorbei ist die Zeit, als Gerhard Schröder noch der Chefkoch
in der rot-grünen Koalition war und den kleinen Partner breitbeinig
als "Kellner" verhöhnen konnte.
Die Sozialdemokraten sind mittlerweile in derart desolater
Verfassung, dass sie froh sein können, wenn sie überhaupt noch
irgendwo mitregieren können. Sogar im SPD-treuen Bremen ist ihre
historische Vormachtstellung offensichtlich Geschichte. Jetzt geht
das altbekannte Spiel wieder los: Abrechnung mit dem Parteichef!
Diesmal ist die erste weibliche Vorsitzende Andrea Nahles dran. Sie
hat gekämpft und es trotzdem nicht geschafft hat, die Partei aus der
Todesspirale herauszuführen.
Dass ausgerechnet der Wahlverlierer Martin Schulz jetzt einen
Putsch gegen sie anführt, zeigt, wie dramatisch die Personalsituation
in Deutschlands ältester Volkspartei ist. Und mit jeder neuen Runde
der Selbstzerfleischung rutscht die SPD noch tiefer in den Keller. Es
droht die reale Gefahr, dass die Partei von Willy Brandt wie
Frankreichs Sozialisten den Weg in die Bedeutungslosigkeit angetreten
hat.
Auch die Union ist ein Verlierer dieser Europawahl. Die
Arbeitsteilung von Parteivorsitzender und Kanzlerin hat den Wähler
offenbar nicht überzeugt. Dazu kam ein Spitzenkandidat, der zwar viel
Seriosität, aber wenig Charisma zu bieten hatte. Bis gestern kannte
jeder dritte Wähler Manfred Weber nicht. Das reicht am Ende eben
nicht für einen klaren Sieg und macht Webers Traum vom Präsidentenamt
in Brüssel noch unrealistischer.
Überhaupt war der Europawahlkampf angesichts der großen
Herausforderungen insgesamt erstaunlich blass. Dass die teure
Wahlkampftruppe von CDU/CSU sich auf den letzten Metern von einem
blauhaarigen Youtuber an die Wand spielen ließ, war "f***ing krass",
um es mit Rezo, dem selbst ernannten CDU-"Zerstörer" mal drastisch zu
formulieren. Vielleicht finden die Volksparteien die Kraft,
grundsätzlich mal über einen modernen Wahlkampf nachzudenken. Der
alte Dreikampf aus sinnfreien Plakaten, Wahlkampfauftritten mit
Papierfähnchen und den berühmten Info-Klapptischen in der
Fußgängerzone ist endgültig aus der Zeit gefallen.
Wer dagegen die sozialen Netzwerke beherrscht und auf Emotionen
statt auf bürgerfernen Polit-Sprech setzt, wird gehört. Das mögen
Traditionalisten beklagen, aber es ist trotzdem wahr. Wie es
funktioniert, können Union und SPD von den Grünen lernen. Diese haben
offensichtlich mit ihren Themen den Nerv der Wähler exakt getroffen.
Sie triumphierten in den Großstädten und haben jetzt ein politisches
Luxus-Problem: Sie brauchen einen Kanzlerkandidaten. Zwei Ergebnisse
hat die Wahl, die durchaus Grund zur Freude sind. Zum einen konnte
die AfD in Deutschland mit ihrem populistischen Anti-Europa-Kurs für
keinen Erdrutsch sorgen. Die Rechten blieben deutschlandweit unter
den Prognosen, nur im Osten wurden sie wirklich stark. Und
gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung der Deutschen deutlich
gestiegen.
Das Interesse an Europa ist größer geworden. Die Jungen sind
offenbar wach geworden und wollen sich einmischen. Das sollten alle -
auch die großen Wahlverlierer - durchaus als Chance begreifen.
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