08.11.2019 20:44 | Aachener Nachrichten | Presseschau
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Aachener Nachrichten: Kommentar zu 30 Jahre Mauerfall: Nicht mehr geteilt, aber zerrissen Von Christian Rein
Aachen (ots) - Ungläubiges Staunen, ungezügelte Euphorie, tiefe Rührung - der
Mauerfall am 9. November 1989 hat die Menschen in Deutschland mit einer
emotionalen Wucht getroffen wie kaum ein zweites Ereignis in der Geschichte des
Landes. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, sangen und feierten
gemeinsam. Es gibt nur wenige, für die jener Donnerstag ein Tag wie jeder andere
war. Die meisten Zeitzeugen erinnern sich genau daran, wo sie damals waren und
was sie gemacht haben. Die Welt blickte auf Berlin und freute sich mit den
Deutschen über die friedliche Revolution der DDR-Bürger und das gewaltlose Ende
einer so gewaltvollen Teilung.
Die genaue Zahl der Menschen, die an der innerdeutschen Grenze zwischen dem 13.
August 1961 und dem 9. November 1989 ihr Leben ließen, ist immer noch unklar. Es
waren Hunderte; alleine in Berlin gab es mindestens 140 Opfer. Der Fall der
Mauer sühnte ein Stück weit auch ihren sinnlosen Tod.
Die emotionale Wucht jener Tage ist heute, 30 Jahre später, einer Verbitterung
gewichen. Das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen ist zu oft von
Misstrauen und Missgunst geprägt. Man hat den Eindruck, je mehr sich die beiden
Landesteile im Zuge der Einheit angleichen, desto mehr fremdeln die Menschen
miteinander. Das Land ist jetzt nicht mehr geteilt, aber es wirkt zerrissen.
Ungleiche Lebensverhältnisse
Noch längst sind die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht angeglichen, die
Bundesregierung zieht eine durchwachsene Bilanz zum Stand der deutschen Einheit.
Zwar sind Städte und Dörfer saniert und modernisiert, aber ganze Landstriche
haben mit Bevölkerungsschwund und Überalterung zu kämpfen. Zwar erreichte die
Arbeitslosenquote im Jahr 2018 mit 6,9 Prozent im Osten einen historischen
Tiefststand. Sie liegt aber immer noch signifikant höher als die im Westen mit
4,8 Prozent.
Zwar sind die neuen Länder ein attraktiver Standort für junge, innovative
Unternehmen, besonders im Bereich erneuerbare Energien. Der wirtschaftliche
Aufholprozess gegenüber dem Westen verlief in den vergangenen Jahren aber
trotzdem nur verhalten, weil auch in den alten Ländern die Wirtschaft wächst.
Der Abstand beträgt immer noch rund 30 Prozentpunkte. Noch hat kein ostdeutsches
Flächenland die Produktivität des westdeutschen Bundeslandes mit der niedrigsten
Produktivität erreicht.
Das trägt sicher zur Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher bei. Doch es zeichnet
nicht alleine die Bruchlinie, die das Land in zwei Hälften teilt. Der tiefe Riss
hat seinen Grund vielmehr in den Fehlern, die nach dem Fall der Mauer gemacht
wurden, als es darum ging, die deutsche Einheit auszugestalten. Die Frage, wie
dieses gemeinsame Land denn aussehen soll, wurde nicht gestellt. Kaum etwas, das
die DDR in einen geeinten Staat hätte einbringen können, wurde auch nur in
Betracht gezogen. Die Chance, eine neue gemeinsame Verfassung zu erarbeiten,
wurde nicht genutzt. Den Ostdeutschen wurde nicht die Chance gegeben, einen
Wertekanon - durchaus basierend auf dem starken Grundgesetz - mitzuerarbeiten
und sich zu ihm zu bekennen. Der Westen hatte gewonnen, die DDR wurde quasi
annektiert.
Die Zukunftsängste ernstnehmen
Das Gefühl, den Kürzeren gezogen zu haben, Zweite-Klasse-Deutsche zu sein,
treibt der AfD in Ostdeutschland noch mehr Menschen in die Arme als im Westen.
Zukunftsängste, die Sorge, den Herausforderungen der Globalisierung nicht
gewachsen zu sein, sind in den neuen Bundesländern besonders stark ausgeprägt.
Wohlgemerkt: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus sind keine
ostdeutschen, sondern gesamtgesellschaftliche Phänomene. Aber sie haben in
Ostdeutschland einen größeren Nährboden.
Das muss Sorgen bereiten und erfordert dringendes Handeln. Die Angleichung der
Lebensverhältnisse muss beschleunigt werden, es müssen mehr Ostdeutsche in
Wirtschaft, Politik und Wissenschaft Führungspositionen bekleiden. Vor allem
aber müssen die Menschen spüren, dass ihre Zukunftsängste ernstgenommen werden,
und ihnen müssen Perspektiven aufgezeigt werden für ein Leben mit allen Chancen
in einer globalisierten Welt. Das alles ist kein Hexenwerk, aber es erfordert
Geld, Engagement, Geduld. Und man muss es wollen.
Pressekontakt:
Aachener Nachrichten
Redaktion Aachener Nachrichten
Telefon: 0241 5101-399
an-blattmacher@zeitungsverlag-aachen.de
Original-Content von: Aachener Nachrichten, übermittelt durch news aktuell
Mauerfall am 9. November 1989 hat die Menschen in Deutschland mit einer
emotionalen Wucht getroffen wie kaum ein zweites Ereignis in der Geschichte des
Landes. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, sangen und feierten
gemeinsam. Es gibt nur wenige, für die jener Donnerstag ein Tag wie jeder andere
war. Die meisten Zeitzeugen erinnern sich genau daran, wo sie damals waren und
was sie gemacht haben. Die Welt blickte auf Berlin und freute sich mit den
Deutschen über die friedliche Revolution der DDR-Bürger und das gewaltlose Ende
einer so gewaltvollen Teilung.
Die genaue Zahl der Menschen, die an der innerdeutschen Grenze zwischen dem 13.
August 1961 und dem 9. November 1989 ihr Leben ließen, ist immer noch unklar. Es
waren Hunderte; alleine in Berlin gab es mindestens 140 Opfer. Der Fall der
Mauer sühnte ein Stück weit auch ihren sinnlosen Tod.
Die emotionale Wucht jener Tage ist heute, 30 Jahre später, einer Verbitterung
gewichen. Das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen ist zu oft von
Misstrauen und Missgunst geprägt. Man hat den Eindruck, je mehr sich die beiden
Landesteile im Zuge der Einheit angleichen, desto mehr fremdeln die Menschen
miteinander. Das Land ist jetzt nicht mehr geteilt, aber es wirkt zerrissen.
Ungleiche Lebensverhältnisse
Noch längst sind die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht angeglichen, die
Bundesregierung zieht eine durchwachsene Bilanz zum Stand der deutschen Einheit.
Zwar sind Städte und Dörfer saniert und modernisiert, aber ganze Landstriche
haben mit Bevölkerungsschwund und Überalterung zu kämpfen. Zwar erreichte die
Arbeitslosenquote im Jahr 2018 mit 6,9 Prozent im Osten einen historischen
Tiefststand. Sie liegt aber immer noch signifikant höher als die im Westen mit
4,8 Prozent.
Zwar sind die neuen Länder ein attraktiver Standort für junge, innovative
Unternehmen, besonders im Bereich erneuerbare Energien. Der wirtschaftliche
Aufholprozess gegenüber dem Westen verlief in den vergangenen Jahren aber
trotzdem nur verhalten, weil auch in den alten Ländern die Wirtschaft wächst.
Der Abstand beträgt immer noch rund 30 Prozentpunkte. Noch hat kein ostdeutsches
Flächenland die Produktivität des westdeutschen Bundeslandes mit der niedrigsten
Produktivität erreicht.
Das trägt sicher zur Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher bei. Doch es zeichnet
nicht alleine die Bruchlinie, die das Land in zwei Hälften teilt. Der tiefe Riss
hat seinen Grund vielmehr in den Fehlern, die nach dem Fall der Mauer gemacht
wurden, als es darum ging, die deutsche Einheit auszugestalten. Die Frage, wie
dieses gemeinsame Land denn aussehen soll, wurde nicht gestellt. Kaum etwas, das
die DDR in einen geeinten Staat hätte einbringen können, wurde auch nur in
Betracht gezogen. Die Chance, eine neue gemeinsame Verfassung zu erarbeiten,
wurde nicht genutzt. Den Ostdeutschen wurde nicht die Chance gegeben, einen
Wertekanon - durchaus basierend auf dem starken Grundgesetz - mitzuerarbeiten
und sich zu ihm zu bekennen. Der Westen hatte gewonnen, die DDR wurde quasi
annektiert.
Die Zukunftsängste ernstnehmen
Das Gefühl, den Kürzeren gezogen zu haben, Zweite-Klasse-Deutsche zu sein,
treibt der AfD in Ostdeutschland noch mehr Menschen in die Arme als im Westen.
Zukunftsängste, die Sorge, den Herausforderungen der Globalisierung nicht
gewachsen zu sein, sind in den neuen Bundesländern besonders stark ausgeprägt.
Wohlgemerkt: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus sind keine
ostdeutschen, sondern gesamtgesellschaftliche Phänomene. Aber sie haben in
Ostdeutschland einen größeren Nährboden.
Das muss Sorgen bereiten und erfordert dringendes Handeln. Die Angleichung der
Lebensverhältnisse muss beschleunigt werden, es müssen mehr Ostdeutsche in
Wirtschaft, Politik und Wissenschaft Führungspositionen bekleiden. Vor allem
aber müssen die Menschen spüren, dass ihre Zukunftsängste ernstgenommen werden,
und ihnen müssen Perspektiven aufgezeigt werden für ein Leben mit allen Chancen
in einer globalisierten Welt. Das alles ist kein Hexenwerk, aber es erfordert
Geld, Engagement, Geduld. Und man muss es wollen.
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